Markus Jakob

23. August 2012

Die Sprachpolizei befiehlt



Diese Papeterie an Barcelonas Plaça de les Olles, dem »Platz der Töpfe«, trägt den wundervoll altertümlichen Namen EFECTOS DE ESCRITORIO, sprich Schreibeffekten oder –utensilien (Google auf die Anfrage Schreibeffekten: »in soften Ziegenvelours mit Schreibeffekten, werden durch handwerkliche Finishes und Handtamponierungen in ihrer optischen...«)

Sie  wird von einem Herrn geführt, dessen Alter man auf dieselben neunzig schätzen kann wie den erwähnten Laden. Nicht viel jünger ist seine Frau, die bis heute fast Tag für Tag – hin und wieder bleibt die Papeterie nun doch geschlossen – gemeinsam mit ihm die seltene Kundschaft bedient. Ich habe dort noch nie nach einem Artikel gefragt, der nicht vorrätig gewesen wäre. Manchmal riecht es ein bisschen nach Katzenpisse; die Viecher streichen einem um die Beine, wenn man wieder mal ein Blatt Löschpapier braucht, aber das Löschpapier fördern sie zutage.

Ich traue mich nicht, den Papetier darauf anzusprechen, weshalb er das schöne alte, perfekt erhaltene Ladenschild so kunstvoll verunstalten ließ, um die spanischen EFECTOS DE ESCRITORIO in katalanische EFECTES D’ESCRIPTORI zu verwandeln. Als gesetzestreuer Bürger hätte er dies schon 1998 tun müssen, als ein Gesetz in Kraft trat, laut dem jeder Laden in Katalonien mindestens auch auf katalanisch angeschrieben sein muss. Die nationalistische Regierung, die sich damals diese Maßnahme zur Sprachförderung einfallen ließ, hat allerdings nie auch nur einem Ladenbesitzer die vorgesehene Geldstrafe aufgebrummt; erst unter der nachfolgenden sozialistisch dominierten Regierung sollen jährlich bis zu 200 entsprechende Sanktionen erlassen worden sein; und neuerlich, wieder unter bürgerlich-nationalistischem Regime, habe sich der Strafrhythmus beschleunigt. Hm... Wieviel damit der katalanischen Sprache geholfen ist, sei dahingestellt.

19. August 2012

Madrider Hypotheken

[April 2004]

Zur Bauwut in der Peripherie



Hölle, doppelköpfig. Die Bilder dieser Reportage wurden kurz vor den Madrider Anschlägen vom 11. März aufgenommen. Wäre es frivol, das Inferno in den drei Bahnhöfen mit den gebauten Greueln, die uns hier beschäftigen, in Zusammenhang zu bringen? Allenfalls der könnte es sein, dass die Bahnlinie, die in Atocha endet und die für das Massaker gewählt wurde, die östlichen Ausläufer eben jener Madrider Peripherie durchläuft, in der sich heute ein in Europa beispielloses urbanistisches Desaster abspielt. So grob diese Zeichnung einer doppelköpfigen Hölle erscheint, sie führt uns mitten hinein in die Wahllosigkeit, mit der hier Raumplanung und Wohnungsbau betrieben werden, in die Verheerungen der Spekulation mithin, die das Leben unzähliger Spanier direkt betreffen und die für ihre Städte, allen voran Madrid, zunehmend eine schwere Hypothek bilden.

Wenn wir von unseren Vorstadtexpeditionen zurückkehrten, waren wir jeweils so ermattet, als hätten wir uns mit der Machete durch den Dschungel geschlagen. In Wirklichkeit hatten wir nur in einem Dickicht von Autobahnen jeweils die richtige Verzweigung oder Ausfahrt erwischen müssen. Das Madrider U-Bahnnetz ist eines der perfektesten der Welt. Wir aber wollten in Territorien vorstossen, in denen der Mensch ohne seinen vierrädrigen Freund verloren ist. Er ist es, so schien uns Suburbia-Ungewohnten, auch mit dem Auto.


Der Spanier und sein Eigentum. Es gibt in Madrid einige hunderttausend Wohnungen, in denen höchstens Gespenster hausen: sie stehen leer. Andererseits hat sich die Einwohnerzahl der Stadt bei drei Millionen, die der Agglomeration bei etwas über fünf Millionen stabilisiert – ohne Immigration wäre sie längst rückläufig. Wie kommt es also, dass heute rund um Madrid ganze Landstriche von Kranen und Stahlskeletten überzogen sind und die Zahl der zurzeit geplanten oder im Bau befindlichen Wohnungen auf dreihunderttausend beziffert wird? Entstehen da lauter Geisterstädte? Wer soll sie dereinst bevölkern? Die unbemittelten Immigranten jedenfalls werden es kaum sein, die Afrikaner, Südamerikaner und Asiaten, die heute das Strassenbild ganzer Viertel der noch vor zwanzig Jahren fast provinziellen Stadt prägen. Wie könnten sie sich Wohnungen leisten, deren Preisniveau dem der teuersten Städte Europas kaum mehr nachsteht? Zumal in Spanien «sich eine Wohnung leisten» fast gleichbedeutend ist mit: «sie besitzen».

Ohne diese Besonderheit wäre alles folgende, bis hin zu den gigantischen Baulandschaften Madrids, nicht erklärbar: 81 Prozent der Wohnungen des Landes werden von ihren Eigentümern bewohnt. Zur Miete zu wohnen, erachten Spanier für hinausgeworfenes Geld; nicht zuletzt, weil Eigentümer von beträchtlichen Steuerbegünstigungen profitieren. Zu einem normalen Leben gehört der Moment, in dem man sich als Eigentümer ins Grundbuch eintragen lässt – genauso, und traditionell ungefähr zum selben Zeitpunkt, in dem man eine Familie gründet. Ein so ordentlicher Lebensplan, in den exakt ein Gatte, ein Domizil und ein Arbeitsplatz passen, hat natürlich einen ideologischen Hintergrund. Es war der Diktator Franco, der das Wohneigentum der Spanier nach Kräften und, wie man sieht, sehr erfolgreich förderte. So erfolgreich, dass Spaniern ihre Wohnungen heute keineswegs ideologisch befrachtet erscheinen, wohl aber mit Hypotheken – das Kreditvolumen des Wohnungsmarkts beläuft sich auf 62 Prozent des Volkseinkommens. Mehr als die Hälfte des Bruttolohns fliesst üblicherweise zu den Kreditgebern. Während das vergleichsweise arme Familienoberhaupt in den sechziger oder siebziger Jahren seine Behausung nach einigen Jahren abbezahlt hatte, sind die Wohnungspreise in einem ersten Schub in den späten achtziger Jahren und erneut seit 1996 in solche Höhen geklettert, dass oft ein ganzes Leben für die Tilgung der Hypothekarschuld nicht mehr ausreicht.

Etwas ist faul am spanischen Wohnungsmarkt. Denn durch die unablässige Wertsteigerung haben Wohnungen zusätzlich zu der Funktion, Menschen ein Obdach zu bieten, längst eine andere erhalten – und manchmal nur noch diese: So wie der Grossspekulant mit den Bodenpreisen, spekuliert der Kleinanleger, anstatt sein Geld an der Börse zu riskieren, mit einzelnen Immobilien. Kaum eine andere Zahl wird von so vielen Spaniern so aufmerksam verfolgt wie der entsprechende Preisindex, laut dem sich der Verkehrswert in den letzten acht Jahren mehr als verdoppelt hat. Noch im Jahr 2003, als eine so unverdächtige Quelle wie der «Economist» davor warnte, die spanische Immobilienblase könnte demnächst platzen, zogen die Wohnunspreise in Madrid um 23 Prozent an.

Geprellt sieht sich bei dieser Entwicklung, wer wirklich eine Unterkunft benötigt. In einem verrückt gewordenen Markt, in dem Angebot, Nachfrage und Preise gleichzeitig steigen, können nicht nur Immigranten nicht mehr mitbieten. Sosehr sich die spanische Gesellschaft vom Kleinfamilienmodell, erst recht von der Illusion eines lebenslänglichen Arbeitsplatzes, wegentwickelt hat, eines ist sich gleichgeblieben: Man kommt vom Elternhaus kaum eher weg, als bis man selbst heiratet. Letzteres aber tun junge Spanier, wenn überhaupt, immer später. Ein unseliges Amalgam aus gedanklicher Trägheit, die das Wort Wohnung mit dem Begriff des Eigentums gleichsetzt, aus exorbitanten Kaufpreisen und einem beschränkten Angebot an Mietwohnungen, hat eine Wohnungskrise ausgerechnet in dem Land ausgelöst, das den jährlichen Ausstoss an Neubauwohnungen auf fast 500'000 gesteigert hat, weit mehr als jedes andere in Europa.


Ville radieuse, stumpfe Version. Die M-30 war Madrids erster Autobahnring. Seine Ostflanke führt so nahe am Zentrum vorbei, dass er heute als eine Art Boulevard erscheint – dem bis zu sechzehnspurigen Verkehr vorbehalten, versteht sich –, aber mit dem postmodernen Pomp der ihn säumenden Gebäude durchaus an die madrilenische Tradition der Gran Vía anknüpfend. Von dieser Ringstrasse zweigen die sechs Autobahnen ab, die ganz Spanien von seinem Zentrum aus radial erschliessen. Drei davon sind neuerdings durch gebührenpflichtige Entlastungsautobahnen ergänzt worden – ein paar Nebenstrecken dazugerechnet, sind es etwa zwölf solcher Strahlen. Aber auch die nächstfolgenden Autobahnringe sind bereits gebaut: die M-40, die nur die südliche Stadthälfte umfahrende M-45 sowie die M-50, während die Ausschreibung der 170 Kilometer langen M-60 eben begonnen hat. Macht viereinhalb Autobahnringe und, über den Daumen gepeilt, etwa sechzig Autobahnkreuze. Es lebe die europäische Stadt! Wohlwollend betrachtet, erinnert dieses Modell an Le Corbusiers Ville radieuse. Ein bisschen von gestern jedenfalls.

Die Madrider Stadtentwicklung spielt sich auf den Flecken Land ab, die zwischen den Schnellstrassen übrigbleiben. Keines dieser Reststücke erreicht auch nur annähernd die Grösse der von der M-30 umgürteten Kernstadt. Es sind vielmehr teils eher erbärmliche, allseits eingezingelte Quadranten, Stümpfe oder Waben, die auch in dichter Bebauung nicht mehr als je zehn- bis zwanzigtausend Wohnungen hergeben. Eines davon hört auf den hässlichen Namen Sanchinarro, von der A-1, der M-30 und der M-40 begrenzt, also schon numerisch privilegiert: da fuhren wir zuerst hin.


Von Fisac zum degenerativen Wohnungsbau. Ich kannte die Gegend im Norden der Stadt schon von einem Besuch bei dem grossen spanischen Architekten Miguel Fisac, etwa acht Jahre zuvor. Fisac hat dort, auf einem Cerro del Aire genannten Hügel, sein eigenes Haus und Studio gebaut, und unweit davon zwei weitere sehr schöne Ensembles, ein Schulhaus und ein Dominikanerkloster. Als ich ihn anrief, antwortete er, er habe die Übel des Madrider Urbanismus seit fünfzig Jahren angeprangert, dafür auch schwer gebüsst – mehrere seiner Häuser, darunter die emblematische «Pagode» beim Flughafen, sind zum Entsetzen der Architekturliebhaber abgerissen worden. Jetzt indessen, neunzig Jahre alt, fühle er sich nicht mehr dazu berufen, gegen eine Entwicklung aufzubegehren, die angesichts dessen, was sich vor seiner Haustür abspiele, unaufhaltsamer denn je erscheine.

Die Gegend war in der Tat nicht wiederzuerkennen. Das Barrio Sanchinarro ist ein Beispiel dafür, wie ein Stück Ödland zwischen Autobahnschlingen in ein Viertel «in Madrids bester Zone», «mit idealer Verkehrsanbindung» und mit Wohnungen de «alto standing», wie es heisst, verwandelt werden kann. Ein Beispiel auch dafür, wie die Stadt ihre letzten Landreserven den Baulöwen vorwirft, indem sie ihre Flächennutzungspläne – Flächendeckungspläne, könnten sie auch heissen – kurzerhand ändert; und wie mit routinierter Hand das zur Bebauung freigegebene Feld trassiert wird, womit sich, nebst einigen Infrastrukturen, die Beteiligung der Öffentlichkeit auch schon erledigt hat. Der Schacher um den Boden, den sich die Spekulanten liefern, ist zwar nicht die einzige, aber doch die Hauptursache des Preisauftriebs des «Endprodukts» Wohnung. Sind die Grundstücke einmal verteilt, werden sie mit Wohnblöcken gefüllt, deren Banalität einem das Herz brechen könnte. 13'568 Wohnungen in diesem Fall, die weggehen wie warme Semmeln, wobei, wie jeder Spanier weiss, Trug und Schwindel, Schmiergelder und Schwarzgelder, Baumängel und Säumigkeiten mit in Kauf zu nehmen sind.

Der Klüngel hat Methode, von den politischen Entscheidungsträgern bis zum einfachen Wohnungssuchenden ist dabei jedem seine Rolle gegeben. Der Filzokratie entgehen auch die Sozialwohnungen nicht, für die lange Wartelisten bestehen, deren Anteil am gebauten Volumen aber auf bloss noch etwa zehn Prozent gesunken ist: ein weiteres Indiz dafür, wie hemmungslos die nun abgewählte Regierung ihr Heil in einer ultraliberalen Wohnbaupolitik suchte. Ohne die zuvor, unter sozialistischem Regime, erbauten Wohnviertel idealisieren zu wollen, ist doch offensichtlich, dass etwa hinter den Strassen von Valbernardo ein Plus an Planung steckt, dass da an öffentliche Räume und öffentliche Einrichtungen gedacht wurde, vom Gemeindezentrum bis zum Metroanschluss. Sogar ein Blumengeschäft haben wir dort entdeckt – wiewohl es nur Trockenblumen feilhält. In Sanchinarro wird es vorläufig nichts dergleichen geben.

Stattdessen wurde in der Rekordzeit von dreizehn Monaten ein Einkaufszentrum hochgezogen, praktisch die Garantie dafür, dass die Strassen des Viertels Totgeburten sind. Symptomatisch für diesen degenerativen Urbanismus – das Wort stammt von Oriol Bohigas – ist auch, dass die sonst totale Abwesenheit von Architektur oder architektonischer Intelligenz durch einen Vorzeigebau verschleiert wird, einen einundzwanziggeschossigen farbigen Wohnkasten der holländischen Equipe MVRDV, dem die Ödheit der Umgebung jetzt schon ein – über mehrere Stockwerke reichendes – Loch in die Wand gestarrt zu haben scheint.

Wir brauchten nun nur die eine oder andere Autobahn zu überqueren, was aber naturgemäss nicht so einfach ist, um zu den nächsten Grossüberbauungen zu gelangen: im Westen Las Tablas, wo unter anderem der Hauptsitz des mächtigsten Konzerns des Landes, Telefónica, geplant ist; daran angrenzend die Gleisüberbauung des Bahnhofs Chamartín und, schon an der Avenida Castellana, die einstige Ciudad Deportiva, das Trainingszentrum von Real Madrid, auf dem vier 215 Meter hohe Wolkenkratzer errichtet werden sollen, wobei sich die Beteiligung internationaler Architekturstars von selbst versteht; so wie auch die dazu nötige Nutzungsplanänderung vom Präsidenten von Real Madrid, Florentino Pérez, mit der ihm eigenen Nonchalance bewirkt wurde.

Nicht umsonst leitet Pérez, wenn er nicht gerade galaktische Fussballer einkauft, Spaniens grössten Baukonzern ACS-Dragados, hervorgegangen aus dem Fusionsfieber, das die Bauunternehmen des Landes vor einigen Jahren erfasste und so gewichtige Firmenverbindungen hervorbrachte, dass heute fünf der sieben kapitalkräftigsten Baukonzerne Europas spanisch sind (die Ränge eins und zwei bleiben den französischen Firmen Bouygues und Vinci vorbehalten). Spanien ist nun einmal das Schlaraffenland der Baubranche, dafür spricht nicht nur der Augenschein, sondern Zahlen wie die, dass vierzig Prozent der Neubauwohnungen in der EU jenseits der Pyrenäen entstehen. Die Bauwut – und die Beiläufigkeit, mit der das Bauministerium Milliardenaufträge verteilt – ist aber auch ein Zeichen dafür, dass die Hauptstadt des Königreichs mit allen Mitteln zur Weltstadt gepusht wird.

Einer dieser Aufträge, angeblich Europas grösste Baustelle, ist der Flughafen Barajas, dessen Kapazität auf 70 Millionen Passagiere erweitert wird. Die ganze Fläche von Sanchinarro bis zu den neuen Terminals, etwa zehn Kilometer östlich davon, ist auch bereits verplant. Einst war hier eine enorme Grünzone vorgesehen, analog zur Casa de Campo im Südwesten. Doch zwischen der Airport City, der Messeerweiterung und einer Wohnüberbauung wird zuletzt nur ein grösserer Park übrigbleiben.

So ist der weite Norden von Madrid, wie es so schön auf Amtsdeutsch heisst, umgewidmet worden. Das Siedlungsgebiet erstreckt sich längst bis zum kühlen Guadarrama-Gebirge – bevorzugte Wohnlage, im Gegensatz zum proletarischen Süden, und hinter ihren Hecken verbergen sich denn auch die gated communities, in denen Minister und Fussballer und die Stars des Regenbogenfernsehens residieren. Schöne neue Welt. Etwas bedenklich stimmt nur die künftige Verkehrsdichte der Richtung Stadtzentrum heute schon hoffnungslos überlasteten Nordeinfahrten.


Durchs wilde Vallecas – Seitenansichten. Um von Sanchinarro aus in die östliche, westliche oder südliche Peripherie zu gelangen, stand uns hingegen ein ganzes Sortiment an Autobahnen zur Auswahl. Die M-40 Richtung Südosten mutet über weite Strecken wie ein Stadtgraben an: festungsartig ragen die roten Blöcke einer scheinbar zu Ende gebauten Stadt auf. Doch wo die Meseta auf der andern Seite der Autobahn gleichsam als Glacis daliegt, ist sie mit Sicherheit inzwischen zur Überbauung freigegeben. Auch den klangvollen Namen der Quadranten jenseits der M-45 – Los Ahijones, Los Berrocales, El Cañaveral – folgt in den Plänen in Klammern jeweils eine fünfstellige Zahl: 20'466, 14'067, 13'298 – gemeint sind Wohneinheiten. Und wenn man sich auf der M-50 momentweise in der Wüste wähnen könnte, so weisen doch schon überall Erdbewegungen auf das Kommende hin. Phantastische Vorstellung, die komplette Silhouette von Madrid auf einen Blick sehen zu können: alle Fraktale exakt erfasst, ergäbe es ein fast endloses photographisches Band.

Eine Bauabsperrung bildet den Rand der alten Arbeitervorstadt Vallecas; dahinter – bis zum Horizont reichend und irgendwie an präkolumbianische Erdzeichnungen erinnernd – die terrassierte Leere des künftigen Ensanche de Vallecas (20'975 Wohnungen). Eine einsame Gestalt stand in einiger Entfernung bei einem künftigen Verkehrskreisel. Das war Guy, ein freundlicher Kongolese, der sich uns als Wachmann dieser Unermesslichkeit präsentierte. Er wünschte jedoch nicht photographiert zu werden und erklärte bedauernd, uns im Namen seines Arbeitgebers überhaupt das Photographieren hier verbieten zu müssen. Anscheinend betrachtet das Baukonsortium selbst die (noch nicht einmal gebauten) Strassen als sein Privateigentum.


Vaciamadrid: Zieglein Zieglein an der Wand... Bei der Stadtplanung stehen sich zwei Kräfte gegenüber: eine Baulobby, die sehr genau weiss, was sie will, nämlich möglichst ungehemmt möglichst viel Geld verdienen, und die dafür über sehr viel Kapital verfügt; und eine Öffentlichkeit, die viel diffuser ist, mit einem limitierten Budget und vertreten durch Abgeordnete, die als Mittler äusserst korruptionanfällig sind, wie der Madrider Wahlskandel im vergangen Sommer zeigte.

Man kann rund um Madrid Neubauviertel in jedem Stadium ihrer Entstehung studieren. Reihen kugelförmiger Strassenlampen, die den blauen Himmel punktieren. Schemen, die vorzeichnen, was dereinst eine wohl ebenso gespenstische Wohnstrasse sein wird. Denn was man in den neuen Stadtteilen, auch den schon bewohnten, selten sieht, sind Menschen. Bauarbeiter allenfalls. Am Samstag mag man manchmal ein junges Paar erblicken, das sich nach der Baracke umsieht, von der aus man sie zu einem piso piloto begleiten und ihnen anschliessend einen Ordner überreichen wird, in dem ihre künftigen Lebensumstände vom Pfandbrief bis zum schwimmenden Parkett vorgezeichnet sind. Entsetzlich, im Grunde, dass Menschen ihr in den nächsten Jahrzehnten erst zu verdienendes Vermögen und zugleich ihren Geschmack an eine gesichtslose Macht verpfänden, die nur auf ihr Geld aus ist. Es gibt freilich auch die Investoren, die solche 08/15-Wohnungen kaufen, ohne sie überhaupt gesehen zu haben.

Über die A-3 kamen wir in eine Ortschaft, deren Name wie ein schlechter Scherz klang: Vaciamadrid, das «leere Madrid» oder eher, die «Leererin Madrids». Sie besteht aus Clustern immer gleicher Einfamilienhäuser – die auf spanisch lustigerweise chalets heissen – beziehungsweise Reihenhäuser – adosados genannt: Rücken an Rücken. Es ist ja auch die gebaute Inkommunikation. Rund um Madrid gibt es Hunderte solcher Siedlungen, vor allem im Westen der Stadt, in denen sich die Mittelklasse ihren Traum vom naturnahen Leben zu erfüllen hofft, wobei dem stilistischen Aberwitz der Häuser keine Grenzen gesetzt sind: Zieglein Zieglein an der Wand... Noch in der schönsten dieser ziegelsteinernen Persiflagen ihrer selbst beschränkt sich das öffentliche Leben indessen auf den Gang zum «KiosCan», dem Automaten für Hundekotbeutel.

Wenn all diese Reihenhaussiedlungen aber keine Öffentlichkeit haben, so haben sie doch eine Identität. Eine solche stiften ihr die Verkehrskreisel. Verkehrskreisel sind die Kirchtürme der neuen Suburbia. Manche sind mit authentischen Katarakten ausgestattet, andere stellen mit wuchtigen Eisenplastiken oder erheblichem gärtnerischem Aufwand die Solvenz der Gemeindekasse unter Beweis. In Vaciamadrid sahen wir einen Kreisel mit einigen Stelen, auf jeder davon ein Storchennest. In dieser Umgebung zweifelte ich nicht daran, dass es Nachbildungen von Störchen waren, die so reglos auf diesen Pfeilern sassen. Bis einer der Vögel plötzlich die Flügel spreizte und davonflog.

Das ändert natürlich nichts daran, dass solche Siedlungen ein ökologischer Wahnsinn sind. Für die Eigenheimbesitzer in Vaciamadrid wäre es beruhigend zu wissen – wahrscheinlich wissen es die wenigsten –, dass die Region Madrid nicht weit von ihren Balustern und Gartenzwergen entfernt eine der grössten Recyclinganlagen Europas gebaut hat, Valdemingómez, die von verschiedenen Architekturzeitschriften ausführlich vorgestellt wurde. Seltsame Welt, in der die Baukunst mit Mülltrennungsanlagen brilliert, während einem der Wohnungsbau nur ein sarkastisches Gelächter entlockt.

Der Weg nach Valdemingómez – wo wir wie erwartet am Tor abgewiesen wurden – führte durch eine kilometerlange Zigeunersiedlung, in der sich die Kunst des Ziegelbaus in bedeutend wilderen Varianten als in Vaciamadrid manifestierte; und ebenso, wiewohl fast zu klischeehaft, auch das Leben. Vor einer bunt bemalten Bar tanzten da mitten am Nachmittag zwei Weiber in langen Röcken zu dem aus einem Ghettoblaster scheppernden Flamenco, daneben fuchtelte ein junger Typ mit einem Messer mit einer furchterregend langen Klinge. Wir hielten an, worauf sich sofort ein schwarz gewandeter Mensch aus der Gruppe löste. Er kam über die Strasse geeilt, lehnte sich ins offene Autofenster und fragte, was wir hier suchten. Stoff vielleicht? – Stoff immer, aber doch nicht von dem.


Bei den Bestadtungsunternehmern. Der Kalauer Bestadtungsunternehmer fiel mir ein, als wir einmal, es war wohl in Sanchinarro, zwei gleichfalls in dunklen Anzügen steckende Männer erblickten, die sich vor einem noch unbewohnten Neubau von einer Frau verabschiedeten und dann in ein Auto stiegen. Sie gehörten zweifellos zu jener Unterspezies der Totengräber der Stadt, die man gewöhnlich Makler nennt.

Zurück im Norden, nachdem wir einmal ganz Madrid umrundet hatten, zog es mich nochmals zum Haus des Architekten Fisac, obwohl er mich nicht zu empfangen gedachte. Eher zufällig fand ich es endlich wieder, und seine in rohen Beton gefassten Panoramafenster schienen wie die Augen eines Ausserirdischen auf das verbrämte Ziegelmauermeer namens Sanchinarro hinunterzuschauen. Die Zufahrtstrasse endete überraschenderweise nicht in einer Sackgasse, sondern führte durch einen schlammigen Tunnel auf die andere Seite irgendeines Damms, irgendeiner Trasse, vielleicht war es auch die M-40. Eine andere Welt tat sich da auf: ein Bidonville, so notdürftig zusammengezimmert, dass die Zigeunersiedlung vom Vortag dagegen luxuriös erschien. Mittellose Rumänen hausten da. Madrid ist eines der Zentren der rumänischen Emigration, die bei den Attentaten vom 11. März allein elf Opfer zu beklagen hatte.

Was nun, keine zweihundert Meter hinter dem Elendsviertel, ins Blickfeld rückte, hielten meine Begleiterin und ich zuerst für eine Schimäre. Es waren französische Landhäuser aus der Zeit um 1800, oder vielmehr: eine jämmerliche Karikatur davon, zweiundsiebzig an der Zahl, alle identisch und um eine Landschaft aus Paddleplätzen und künstlichen Wasserfällen gruppiert. Zwei davon waren noch verkäuflich, und ein Musterhaus folglich zu besichtigen. Es war überheizt, aber der Schweiss konnte einem allein bei der Idee ausbrechen, dass es Menschen gibt, die für eine solche Travestie des gehobenen Geschmacks Geld auszugeben bereit sind, wobei sie nicht einmal die Marke der Waschmaschine selbst bestimmen dürfen. «Wieviel denn?» erkundigte ich mich, als wir im Kinderzimmer oben angelangt waren, und sah meine Begleiterin dabei vielsagend an. Es waren etwas über zwei Millionen Franken. «Dazu kommt natürlich noch die Mehrwertsteuer», sagte der nette Herr von der Firma «Nuevo Mundo». Sind Stadtmodelle, fragt man sich in Madrid manchmal erschüttert, vielleicht auch nur eine Geschmacksfrage?

17. August 2012

Onkel Hos Hütte vs. Thieus Crypto Section




Mir träumte, ich lebe in einer Holzhütte, einer Art Pfahlbau, wo mir Ho Chi Minh einen Besuch abstattete. Alles spielte sich aufs Manierlichste, Zivilisierteste ab. Beim Erwachen fiel mir auf, dass in Wirklichkeit Onkel Ho in einer Holzhütte gelebt hatte, die ich kurz zuvor in Hanoi besucht hatte. Bei Ho scheint alles verkehrt herum zu laufen. Damit meine ich weniger die urbane Legende, laut der er 1913 in London, als er dort im Hotel Carlton unter keinem Geringeren als Escoffier die Confiseurskunst erlernte, in einem Flur Mae West gekreuzt und sie angesprochen haben soll, worauf es zu einem so hastigen wie heftigen Techtelmechtel zwischen dem grazilen Asiaten und der üppigen Blondine gekommen sei, was in seltsamem Gegensatz zu Hos späterem, als spröd zu bezeichnenden Lebensstil zu stehen scheint, sondern den sonderbaren Sachverhalt, dass sich in Hanoi heute in nächster Nähe zu seiner Hütte die dem Lenin-Mausoleum nachempfundene Grabstätte befindet, die wir anders als seine Hütte nicht besuchen konnten, weil der dort ausgestellte einbalsamierte Leichnam des kommunistischen Führers gerade zur einmal jährlich fälligen Revision nach Moskau verfrachtet worden war.

Vietnam zog mich aus verschiedenen Gründen an: aus einer Ahnung seiner Schönheiten und seines unbändigen Straßenlebens, aber gewiss spielte da auch Nostalgie herein: als knapp Fünfzehnjährige waren wir 1969 durch die Straßen von Bern gezogen und hatten Ho-Ho-Ho-Chi-Minh” skandiert, um uns beim Besuch des Generals Westmoreland – so hieß der amerikanische Oberbefehlshaber wirklich – von Wasserwerfern unsere Levi’s-Jacken versauen zu lassen. Was ein fast so wichtiges Ereignis wie der Vietnamkrieg selbst war.

Der Vietnamkrieg wird in in Vietnam logischerweise der Amerikanische Krieg genannt. Würden wir alle amerikanischen Kriege nach 1945 als solche bezeichnen, könnte uns ein wenig schwindlig werden.

Onkel Hos Hütte habe ich im November 2011 bei meiner zweiten Reise nach Vietnam besucht. Sie steht in einem von teils fast modernen Kolonialbauten charakterisierten Stadtteil in einem Park, der wie gesagt auch Hos Mausoleum sowie das unsäglich überkandidelte Ho Chi Minh Museum aufnimmt, und in dem man vietnamesische Soldaten in ihren tadellosen Uniformen teils in mehr oder weniger strammer Formation herummarschieren, teils locker Eiscrèmes schlecken sieht.







 

Das Stelzenhaus Ho Chi Minhs – vietnamesisch Nha San Bac Ho – evoziert zwar die Pfahlbauten, in denen ein Großteil der ländlichen Bevölkerung des Landes lebt; aber natürlich ist es anders als die Hütten des Volks aus den feinsten Hölzern gebaut und in seiner Einfachhheit so bezaubernd, dass mir unweigerlich der Gegensatz zum Präsidentenpalast, heute Wiedervereinigungspalast in Saigon, den ich bei meiner ersten Reise im Juli 2005 gesehen hatte, auffallen musste.





Dieser Gegensatz zwischen dem Habitat des damaligen nord- und des südvietnamesischen Herrschers – Nguyen Van Thieu – ist allerdings bestürzend. Wir sprechen von den 1960er Jahren. Thieus Vorgänger Diem hatte den von abtrünnigen Kampfpiloten zur Ruine gebombten Präsidentenpalast 1962 neu aufbauen lassen. Der Vietnam bzw. Amerikanische Krieg endete, als ein nordvietnamesischer Panzer die Pforten dieses Palastes am 30. April 1975 durchbrach. Er wurde, wie Onkel Hos Hütte in Hanoi, tel quel erhalten und als “Wiedervereinigungspalast” in ein Museum umgewandelt. Und so wandelt man nun durch die plüschigen Gemächer der amerikanischen Marionette Thieu – und durch das düstere, mit seinen Funkanlagen wie die Karikatur einer Spionagefilmkulisse anmutende Untergeschoß.

Onel Ho:



Nguyen Van Thieu:



Onkel Ho:



Nguyen Van Thieu:







«Solamente una vez», aber bitte jede Nacht. Eine Mexikakophonie

[Mai 2000]

 

«Kommen Sie am Nachmittag wieder, dann wird Comandante Delfino Sie empfangen.»

Sie waren zuvorkommend, sehr zuvorkommend, die Polizisten von der Wache an der Plaza Garibaldi. Sie haben ja auch ein ganz spezielles Revier, sind zuständig sozusagen für die musikalische Ruhe und Ordnung der Stadt Mexiko. Nichts Ungewöhnliches, wenn da nachts um zwei eine Polizistin einem Gitarristen mit der Stimmgabel zur Hand geht: «Das Mi bitte, Eugenia.» Zu dieser Stunde ist der Platz schwarz von Musikern, zumal an Wochenenden. Aber Achtung: Mariachis trifft man an der Plaza Garibaldi 365 Tage im Jahr, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Selbst am Vormittag sind entlang der Avenida Lázaro Cárdenas immer einige «Elemente» präsent – wobei elemento den einzelnen Instrumentalisten meint. El Mariachi hingegen bezeichnet primär das ganze, in klassischer Formation acht oder neun elementos bzw. mariacheros umfassende Ensemble. Über 4000 Musiker sollen es sein, die hier regelmässig aufspielen und/oder auf Engagements warten. Und nun stelle man sich einmal die Ruhe und Ordnung vor, wenn einige hundert solcher elementos gleichzeitig ihre Stimmen, ihre Violinen und Trompeten, ihre Vihuelas und Guitarrones ertönen lassen. Gegen diese Kakophonie können und wollen Wachtmeister Delfino und seine Leute nichts ausrichten. Haben sich um genug andere Elemente zu kümmern.

*


 «Comandante, zunächst herzliche Grüsse von Don Javier vom Tenampa.» «Er ist hoffentlich wohlauf», entgegnete Delfino mit einem Zartgefühl, das Hollywood-Filme mexikanischen Ordnungshütern gewöhnlich nicht zutrauen. Wir konnten das gute Befinden des Besitzers von El Tenampa – eines mythischen, übrigens unmittelbar neben der Polizeiwache liegenden Mariachi-Lokals – ohne weiteres bestätigen, hatten wir doch eben mit Don Javier gefrühstückt: exzellente Quesadillas und etliche, etliche Gläschen «Herradura Reposado».

Uns selbst brauchten wir dem Comandante nicht lange vorzustellen. Wir hatten uns seit Tagen an der Plaza Garibaldi herumgetrieben, und unsere Anwesenheit war den für die Sicherheit des Platzes Verantwortlichen um so weniger entgangen, als man hier verwunderlich wenig Fremder ansichtig wird. «Ja, das Image des Platzes ist nicht das beste», räumte der Comandante ein. «Und Touristen, vor allem die Nordamerikaner, sind nun einmal ängstlich.» Dabei sei die Delinquenz in den letzten Jahren um 80 Prozent zurückgegangen. Dreissig bis vierzig Beamte, teils in Zivil, lasse er allnächtlich ausschwärmen. Wir können hier bestätigen, dass die Plaza Garibaldi nachgerade eine Oase der guten Gesittung ist. Nur wer zu Abschweifungen in Seitengassen neigt, hat Grund, an die Möglichkeit des Beraubtwerdens überhaupt zu denken: dem Ruf der Gegend als «Barrio bravo» werden sie noch eher gerecht als der Platz. Dennoch wird er von vielen Tour Operators prinzipiell gemieden, andere lassen ihre Schäfchen allenfalls einen flüchtigen Blick durch die Fenster des klimatisierten Reisebusses werfen. Viel haben die davon natürlich nicht. Die dürren Explikationen einer Tourbegleiterin sind ja wohl kein Ersatz für schmetternde Trompeten und den Schmelz aus hundert Kehlen.

*


In der Geschichte der Plaza Garibaldi gibt es wenig Gewissheiten. Über die Herkunft des Namens heisst es, sie trage ihn – circa seit 1921 – nicht etwa zu Ehren des italienischen Freiheitskämpfers, sondern eines in Mexiko gelandeten Enkels desselben, von dem sonst kaum etwas bekannt ist. Der Begriff Mariachi wiederum wird gewöhnlich mit dem französischen mariage assoziiert: weiss gewandet, sorgen Mariachis bei kirchlichen Trauungen bis heute für Stimmung. Doch diese Volksetymologie war zweifelsohne ein Stachel im Fleisch der Mexicanidad. Bis es gelang, eine indianische Herkunft des Wortes – mit divergierenden Lesarten, aber jedenfalls vor der französischen Invasion von 1862 – nachzuweisen. Auffällig übrigens, wie dünn gesät die Literatur zur mexikanischen Nationalmusik, wie man sie wohl nennen darf, etwa verglichen mit dem Tango ist. Der Katalog der Nationalbibliothek enthält zum Stichwort Mariachi keinen einzigen Eintrag; was Bände über diese Bibliothek spricht, aber noch nicht das letzte Wort zum Thema Mariachi ist. Da gab es doch, erinnerte sich ein Kellner im Tenampa, vorzeiten dieses amerikanische elemento, Johnny, der eine profunde Broschüre dazu verfasst habe. Heute natürlich unauffindbar. Ein anderer wusste von einem Kompendium zu berichten, an dessen Entstehung er selbst beteiligt war und von dem es noch ein Exemplar in der Universitätsbibliothek geben müsse. Wir kamen dann mit zwei andern Traktätchen im Gepäck nach Hause. Aber es wäre ja nun nicht am Platz, statt des Panoramafensters der Bustouristen eine literarische Trennscheibe zwischen uns und den Mariachis zu errichten.

Die Kommunikation wurde freilich dadurch erschwert, dass es sich bei den Musikern von der Plaza Garibaldi um eine ziemlich wortkarge Spezies handelt. Drücken sich vorzüglich in vollendeten, etwa von Agustín Lara verfassten Versen aus. Kam dazu, dass sie oft, kaum war man mit einem von ihnen ins Gespräch gekommen, unversehens von den Kollegen zurückgewinkt wurden: «Entschuldigen Sie, aber wir scheinen da gerade eine Verlobung zu haben.»

Einer, der immer Zeit für uns hatte, war Javier Aguilera, der das traditionsreichste Nachtlokal am Platz führt: El Tenampa (Etymologie: schleierhaft. Man glaubt el hampa, das Lumpenpack, herauszuhören.) «Hier trifft sich einfach alles, vom kleinen Ganoven bis zum Intellektuellen, dazu noch ein paar japanische Touristen.» Diese Mischung sei in einem Land, in dem die Oberschicht sich sonst peinlich abschotte, etwas Einmaliges, schwärmte Don Javier und spendierte eine erste Runde Tequila. Er habe das Tenampa vor zwei Jahren von seiner verstorbenen Schwester übernommen, habe vorher als Anwalt für Pepsi und Henkel gearbeitet («alles in Butter», bewies er seine Deutschkenntnisse), sei aber mit der Welt der Mariachis von Kind auf vertraut. Das Lokal war 1923 von seinem aus dem Staat Jalisco gebürtigen Grossvater gegründet worden. Eben aus Jalisco stammten auch die ersten Mariachis, die sich im Distrito Federal – dem D.F., wie die Hauptstadt gemeinhin genannt wird – niederliessen. In den dreissiger und vierziger Jahren gewann der Mariachi, musikalisch wie äusserlich, seine seither kaum mehr variierten Konturen. Zu den Violinen gesellten sich die Trompeten, und der traje de charro, der reich verzierte Anzug des mexikanischen Herrenreiters, gehört bis heute zum Erscheinungsbild. «Es war der Film, der dieses festschrieb und populär machte, namentlich in der Gestalt von Pedro Infante, dem Gardel Mexikos. In manchen dieser Revolverdramen schmettert er seine Schnulzen eben hier, im Tenampa.» Don Javier orderte noch drei Reposados, bevor er uns die Murales, die das Tenampa zieren, erläuterte: eine fabelhafte Kitsch-Galerie längst verblichener Stars.

Wie im Fall des Tangos setzte der Niedergang der Mariachi-Industrie in den sechziger Jahren ein. Zudem fehlte hier ein Piazzolla, ein Modernisierer, der die Musik von ihrem etwas ranzigen Beigeschmack befreit hätte. Dass dem Mariachi kein Revival beschieden war, wie es in den neunziger Jahren vom Tango bis zum Son Cubano und von der Bossa bis zur Salsa fast sämtlichen lateinamerikanischen Genres zu neuer, weltweiter Popularität verhalf, ist wohl nicht zuletzt auf das kreative Erlahmen der mexikanischen Musiker zurückzuführen. Den Tumult, der sich allnächtlich an der Plaza Garibaldi erhebt, verhindert es nicht.

*


Garibaldi liegt in einem Handwerkerviertel am Rand des historischen Zentrums. Stadtauswärts schliesst der enorme Mercado Lagunilla daran an. Nähert man sich dem Platz durch die Calle Nicaragua, kann man nur staunen, wieviel im D.F. geheiratet werden muss: Brautkleidergeschäfte nehmen da ganze Strassenzüge ein. Was nicht der Ironie entbehrt, denn das grosse Thema der rancheras, sones, jarabes und huapangas ist und bleibt das Liebeswerben. Der erste Musiker, mit dem wir sprachen, machte es mit dem ersten Satz klar: «Worum‘s hier geht, ist, die Frau mit dem passenden Lied zu betören. Sie einzustimmen oder umzustimmen, das ist die ganze Kunst des Mariachis.» Don Javier ergänzte dieses Statement des Gitarristen Arturo später mit der Information, es gebe freilich auch die sogenannten chanclas. Die chancla ist ein abgetretener Schuh. Gemäss der ranchera: «La chancla que yo tiro/no la vuelvo a levantar.» (Die Latsche, die ich wegwerf/heb ich nicht wieder auf.) Brüsker als mit dem Engagement eines Mariachis und der Bitte, für die Liebste eine chancla zu intonieren, kann man ihr kaum den Laufpass geben. Wobei ihr immerhin der Sänger tief in die Augen blicken dürfte.

An markanten Gesichtern und sonderbaren Figuren ist an der Plaza Garibaldi kein Mangel. So gut gestylt wie der alte Arturo kommt freilich nicht jeder daher. Mit seinem millimetergenau gestutzten Bürstchen über der Oberlippe, der farblich dazu assortierten Plasticsonnenbrille (weiss mit Silberstreifen) und dem falschen Kamelhaarmantel hob er sich wohltuend von den Folkloregestalten um ihn herum ab. Gleich darauf sassen wir in der Bar San Luis und Arturo interpretierte mit seinem Trio den unsterblichen Bolero «Solamente una vez»: Nur ein einziges Mal – und den hatten sie nun bestimmt schon zehntausendmal gespielt. Aber war das nicht gerade das Schöne daran: was sie alles wegliessen, um ihren Gitarren nur noch die Perlen leichthin zu entlocken? An der Theke sass eine Hure in einem goldenen Kleidchen und schrieb seelenruhig an einem Brief. Auf einmal stürmte ein anscheinend hochwichtiger Herr herein und alsbald wieder hinaus, eine Señorita im Schlepptau und von mehreren Leibwächtern umgeben, die dann draussen auf dem Platz, als die Getränke serviert waren und ein Mariachi sich formiert hatte, einen zweiten Halbkreis um das Paar bildeten. Für solche Bilder wird man nachher schon fast blind, weil es ihrer zuviele gibt.

*


Wir hätten diesen Artikel gern mit einer eindrücklichen Frauenfigur gekrönt. Aber die Mariachi-Musik ist zu 99 Prozent Männersache, auch wenn es in Mexiko nie an grossen weiblichen Stimmen fehlte: Chavela Vargas etwa oder Lola Beltrán, die an der Plaza Garibaldi mit einem Denkmal geehrt wird, unmittelbar neben dem eines gewissen Méndez Sosa, der Inschrift zufolge Autor von «Cucurrucucu Paloma». Diese Denkmäler, acht an der Zahl, sind freilich kein Ersatz für die Bäume, die 1996 dem Umbau und Einbau eines unterirdischen Parkhauses zum Opfer fielen. Viele trauern auch dem grossen Brunnen nach, in dem sich nachts die borrachos erfrischten, sehr zum Verdruss der Obrigkeit, die ihnen diese Badegelegenheit nun genommen hat. «Früher war der Platz einfach schöner», das bestreitet niemand, obwohl er jetzt autofrei ist; andererseits, seit dem Abriss des legendären Folies, auch offen zur sechsspurigen Avenida Lázaro Cárdenas. Dort wurde die Kundenvorfahrt angelegt, trottoirseitig mit einem Gitterboden, unter dem die Metro vorbeidonnert; dahinter die grosse Pergola, unter die sich bei nassem Wetter – und in der Regenzeit sind allabendliche Niederschläge garantiert – männiglich flüchtet. Da verquicken sich dann die lieblichen Melodien vollends zum Heidenlärm.

Freitag, 22.30 Uhr. Es hat aufgehört zu regnen. Umrahmt vom Mariachi Los Caporales in voller Aktion, steht ein Dodge Ram Charger bei der Vorfahrt, eine junge Dame im hochgeschlitzten Kleid an die Kühlerhaube gelehnt, auf der die obligate Tequilaflasche steht. Der schon reichlich angesäuselte Soupirant und Chauffeur dieser Karosse, der seiner Angebeteten und uns allen aber immerhin dieses Spektakel offeriert, spricht weiterhin dem Herradura Reposado tüchtig zu, notabene unter dem wachsamen Auge eines Beamten aus dem Corps von Comandante Delfino. Kann sich denn hier jeder Verkehrsteilnehmer nach Belieben volllaufen lassen? «Gewiss doch. Solange er keinen Unfall baut.» So wie man nachts ja auch Rotlichter nicht zu beachten braucht – wenn man dabei nicht gerade einen Streifenwagen zu einer Vollbremsung nötigt, wie wir noch am selben Abend erfahren sollten.

Vorläufig gab es jedoch auf dem Platz selbst genug zu sehen. Die hochgeschätzte, hochgeschlitzte Schönheit stimmte inzwischen in die Gesänge des Mariachis ein, was keineswegs ungewöhnlich ist. Viele Leute kommen nicht nur zum Hören, sondern zum Selbersingen hierher. Auch in diesem Fall wird aber einer der Begleitmusiker nach jedem Stück gewissenhaft ein Strichlein auf ein Zettelchen malen: für die Abrechnung. Wer nun denkt, ein alter Gassenhauer wie «Guantanamera» könne gerade einem Mexikaner nur noch ein müdes Lächeln entlocken, der sollte einmal sehen, mit welcher Inbrunst eine zufällig zusammengewürfelte Schar den Refrain mitsingt: das Delirium. Gleich daneben spielen zwei Alte ungerührt eine Partie Dame mit Flaschenverschlüssen. Was uns daran erinnert, dass wir auch wieder mal Nachschub brauchen, diesmal bei einem ambulanten Händler, wenn man denn mit diesem Wort einen Menschen bezeichnen kann, der seine hochprozentige Ware seit 37 Jahren auf demselben Mäuerchen feilhält, «Nacht für Nacht, bis ins Morgengrauen.» Ob er da der rancheras nicht allmählich überdrüssig ist? Ach, die seien für ihn nurmehr eine Klangwolke. Gegen sechs Uhr früh gehe er gelegentlich noch ins gegenüberliegende Tropicana (schöner Saal übrigens), um Salsa zu tanzen.

Die Musiker selbst nehmen in der Regel keinen Alkohol zu sich. Als Alternative bietet sich eine ziemlich eigenartige Erfrischung an: Orangensaft mit Wachteleiern, wie alles in Mexiko mit Salz, Zitrone und Chile zu würzen. Der Mann, der einen Supermarkt-Einkaufswagen entsprechend aufgemöbelt hat, gehört genauso zum Personal des Platzes wie der mit einem Sortiment Sombreros ausgerüstete Photograph, wie die Frau, die Taxikunden bei Regen mit dem Schirm zum Wagen geleitet oder wie die Schuhputzer mit ihren thronartigen Gestellen, auf denen sich die mariacheros ihre Stiefel unter einem von Coca-Cola gesponserten Baldachin polieren lassen. Die seltsamste Attraktion sind aber zweifellos die toques. Das ist ein Aggregat mit zwei über Kabel angeschlossenen Metallstäben, mit denen sich ganze Tischrunden elektrisch aufmuntern lassen. Der Mutigste ergreift die Stäbe, die übrigen fassen sich bei den Händen, der toques-Mann dreht auf: Und dann kichern sie los und zucken herum, während im Hintergrund der Mariachi-Chor «Ay-ay-ay-ay-ay» kräht.

*


Zwischen den Mariachis, vor allem den grossen Ensembles, herrscht dauernde Rivalität: als möchten sie sich gegenseitig vom Platz singen, blasen und fiedeln. Und obwohl man meinen könnte, die Musiker kennten einander allmählich, beobachten sie ihre Konkurrenten beim Spiel mit gespannter Aufmerksamkeit. Einen guten Mariachi zu engagieren ist übrigens nicht ganz billig: bis zu 200 Pesos für ein einzelnes Lied, ein einstündiges Rezital kommt demnach auf annähernd 1000 Franken zu stehen. Das heisst nun nicht, dass die Musiker in Saus und Braus leben. «No hay chamba», zu wenig Arbeit, diese Klage hört man oft. Anstrengender als das Spielen sei das Warten. Mit jeden Lied muss sich der Mariachi neu beweisen, und man kann sich ausmalen, was das für eine vierzig oder fünfzig Jahre dauernde Karriere, die nicht über die Plaza Garibaldi hinausführt, bedeutet. Einige wenige schaffen den Sprung in die höheren Sphären der Plattenindustrie, des Fernsehens, der Japan-Tourneen... Garibaldi sei ein Spiegelbild der mexikanischen Gesellschaft, hatte schon Don Javier gesagt. Was er damit meinte, war eigentlich nur: Hoffentlich wird es immer einen mexikanischen Mittelstand geben, der sich für die Geburtstagsparty einen Mariachi leisten kann.

Der Platz selbst ist eine Dreiklassengesellschaft. Im hinteren Teil gehen die Einzelgänger um, die von keinen grossen Ambitionen mehr geplagt werden. Ich erinnere mich an einen Alten mit Federhut, tadellos gebundener Krawatte, der mit seiner Gitarre durch den angrenzenden Mercado San Camilito schlich, wo wir eben die unwahrscheinlich scharfen Gerichte der Küche von Jalisco – Birria, Pozole, Alambre, Tepache – gekostet hatten. Ob wir etwas hören möchten, fragte der Troubadour. Eine Ballade bitte, sagte ich, «Solamente una vez» noch im Ohr. Und dann sang er mit zitternder Stimme, die gegen das Schlagergeplärr von den Fernsehschirmen nicht aufkam, ein himmeltrauriges Lied von einem nach Sibirien Deportierten. «Ach wissen Sie, die wirklichen Balladen sind die russischen. Hier haben wir doch bloss Boleros.»

Wieder andere Musik, andere Stilrichtungen hört man in der Mitte des Platzes. Viele der Gruppen hier sind nicht Mariachis. Da ist einmal die Música Norteña, mit Akkordeon und Schlagzeug – «lüpfig» möchte man sie nennen: schon texanisch beeinflusste «Hudigäggeler», was auch im Tenue dieser Quartette zum Ausdruck kommt: Stetson, Halfter usw. Und da sind die stets ganz in Weiss gewandeten Musiker aus Veracruz, zu deren Instrumenten die Harfe gehört, die bei den Mariachis durch die drei Saiteninstrumente Requinto, Vihuela und Guitarrón verdrängt wurde.

*


Samstag, 00.45 Uhr. Tohuwabohu an der orilla, dem Westufer des Platzes. Der Dodge Ram Charger ist inzwischen mit seiner hochgeschlitzten Fracht verschwunden. Aber eben hat sich der Mariachi Querido México, aufgeboten von einem jungen Mann, der sein Liebesansinnen telephonisch vermitteln will, um eine Sprechzelle versammelt. Auf deutsch würde man wohl sagen, er bringe seiner Liebsten «ein Ständchen». Bleiben wir jedoch für derlei Balz- und Brunftgesänge lieber bei dem züchtigen Ausdruck serenata. Zu bedauern sind alle weiblichen Geschöpfe, denen nie im Leben eine Serenade dargeboten wurde. In Mexiko sind das zum Glück die wenigsten, denn Serenaden gehören hier zur Allnacht.

Auch uns war nun nach einer solchen zumute – einer Allnacht, einer Serenade –, doch mussten wir eingedenk der Telmex-Tarife und der Tatsache, dass in Europa Samstag früh um acht war, auf die telephonische Variante verzichten. Blieb, mangels mexikanischer Mädchenobjekte, nur die Möglichkeit, uns einem einheimischen Schmachtfetzen anzuschliessen. Da! kletterte eben eine Gruppe in den mariachieigenen Kleinbus. Ob es zu einer Serenade gehe? Und ob wir mitfahren dürften? Gewiss doch; nur war in dem Vehikel leider kein Platz mehr. Taxi herbeigewinkt – einen jener grünweissen Käfer, von deren Benützung das State Department nordamerikanischen Bürgern dringend abrät, seit einmal einer als Kadaver abgesetzt wurde –, und los ging‘s: an der Spitze der Kunde, in der Mitte der Mariachi-Bus, hinten wir im Taxi. Der Fahrer nahm seinen Verfolgungsauftrag ernst – so ernst, dass er nach wenigen Kilometern beim Überfahren eines Rotlichts beinahe einen Streifenwagen rammte. Sirenen, Blinklichter, Lautsprecher: «¿Todo bien?» fragte der Beamte lakonisch, bevor er uns auf Waffen abtatstete. «Das sind doch nur Ausländer», versuchte der Chauffeur zu beschwichtigen, denn offenbar argwöhnten die Polizisten, wir seien, und nicht unbedingt als Opfer, in irgendeine Missetat verwickelt. Auf der Rückfahrt – unser Mariachi war inzwischen natürlich in der Nacht entschwunden – durften wir uns die Schilderung der von unserem Chauffeur in seiner bisherigen Taxikarriere erlittenen Verwundungen – Einschüsse, Messerstiche, kleinere Schrammen – anhören. Dieselben Geschichten, die einem jeder Taxifahrer erzählt. So ist der D.F.: gross genug, um alles, auch die Gewalt, als Mythos zu hätscheln.

Wir gaben nicht auf. Die Plaza Garibaldi, und namentlich die orilla, waren so turbulent wie zuvor. Gerade hatte sich der munizipale Abschleppdienst einen in vierter Reihe geparkten Sünder ausgesucht, als der Besitzer des fraglichen Autos im letzten Moment einstieg und davonfuhr, worauf der Abschleppwagen mit der Megaphondurchsage «¡No sea cobarde!» – verdammter Feigling! – die Verfolgung aufnahm, während die Polizei ununterbrochen ihr «¡Aváncese, aváncese!» durchgab, auf dass der Verkehr nicht ganz erliege. Da! waren schon wieder einige Jugendliche aus gutem Haus – man nennt sie fresa, Erdbeeren – mit einem Mariachi handelseinig geworden. Taxi herbeigewinkt, und los ging‘s; aber nur zweihundert Meter weit. Dem Kunden war nämlich eingefallen, dass er das Orchester noch gar nicht zur Probe hatten aufspielen lassen. Schon sprangen die elementos aus ihrem Bus, setzten die Instrumente an, gaben drei fulminante Takte zum Besten – okay: Jetzt konnte es wirklich losgehen. Diesmal wären wir allerdings beinahe mit einem startenden Jet zusammengestossen: Die Serenadenempfängerin lebte in der Nähe des Flughafens. Endlich eine stille Strasse – still so lange, bis unsere elementos vor dem betreffenden Haus das erste Lied anstimmten, alsbald unterstützt von den Juchzern, den Pfiffen, dem Chor der Freundesgruppe. So süss, so lieblich, dass selbst in der Schweiz nur ein ganz herzloser Nachbar die Fenster mit dem Hinweis, es sei drei Uhr nachts, aufgerissen hätte. Aber wo blieb die also Angebetete? Man konnte wohl begreifen, dass sie sich zuerst den Schlaf aus den Augen reiben und sich ein wenig hübsch machen musste, bevor sie sich zeigte. Nun aber drückte einer der Trompeter schon den Trichter seines Instruments an den Briefkastenschlitz und trillerte aus Leibeskräften hinein, als endlich ein Lichtlein anging und kurz darauf eine kleine dicke Liese, die diesen ganzen Aufwand anscheinend für ziemlich normal hielt, unter der Tür erschien. Und dann küssten sie sich. Denn Mexikaner, die können küssen und küssen und küssen, ob ein Mariachi dazu spielt oder nicht.

*


Dann gibt es die Ungeküssten. Zum Beispiel die Frau, die tagein tagaus, Sitcomhelden vis-à-vis, in ihrer winzigen Parterre-Wohnung gleich neben der Plaza Garibaldi Blechnieten auf die Anzüge der mariacheros näht. Früher waren sie aus Silber, diese Zierknöpfe. Dreissig bis vierzig Stück pro Hosenbein.

Diese Frau ist Teil der kleinen Zulieferindustrie der Mariachis. Ihre Spuren finden sich überall im Barrio. Der Nachbar ist Geigenlehrer – versuchte gerade einem Violonisten, der sein Gewerbe an der Plaza seit dreissig Jahren ausübt, schliesslich doch noch die korrekte Haltung beim Musizieren beizubringen. Ab Blatt spielen kann er nicht – wozu auch, wenn er zweitausend Standards im Kopf hat? Ein anderer Schüler dieses Mannes hat es hingegen, via Plaza Garibaldi, zum ersten Violonisten des Symphonieorchesters von Atlanta gebracht. Der Gitarrenbauer Umberto wiederum, der so gemütlich vor seiner Werkstatt an der Calle Perú das Griffbrett einer Vihuela schleift, ist mit diesem Dasein glücklicher als einst, da er als Mitglied des berühmten Mariachi Vargas um die Welt reiste. Wieder andere bringen es nie über den D..F. hinaus: der Hutmacher etwa, der uns die besonderen Qualitäten von Kaninchenhaar erklärte, und der uns die Technik vorführte, mit der die von ihm selbst entworfenen Bordüren aufgenäht werden. Mindestens drei Anzüge hat das Mitglied eines guten Mariachis im Schrank hängen. Den Stoff nennt man hier «casimir», auch wenn er mit Kaschmir nichts zu tun hat, ausser dass er für das Klima viel zu warm ist. «Mariacheros müssen leiden», bestätigt einer der Ausstatter.

In dieser Hinsicht hat es ein Einzelgänger wie Arturo einfacher. Auch ihm fiele es nicht ein, sein Äusseres zu vernachlässigen, und auch er kann sich keinen echten Kamelhaarmantel leisten. Aber der talí, das Händchen, mit dem das Tragband an der Gitarre befestigt wird, ist doch aus Silber und mit echten Zirkonen besetzt.

Samstag, 04.45 Uhr. Zurück in der Bar San Luis. Arturo und vier andere Gitarristen spielen, nur so für sich, einen Bolero nach dem andern. Es wäre zum Heulen schön. Aber man kann sie nicht hören, denn irgendein junger Büffel drückt gleichzeitig an der Jukebox einen grässlichen Schlager nach dem andern. Man hört sie nicht, sie hören sich selbst nicht, und doch spielen sie immer weiter.

 

11. Oktober 2011

Ablenkungs-manöverbericht

In mir wohnt ein Mörder, der es darauf abgesehen hat, meine Zeit abzuservieren. Bei Schlechtwetter benützt er als Tatwaffe jeden erdenklichen häuslichen Krimskrams, und das Opfer weist denn auch alle Merkmale einer langsamen und stümperhaften Erdrosselung auf. Geschickter geht er bei Sonnenschein vor: so perfid, dass meist nicht einmal eine Leiche beigebracht werden kann. In den seltenen Fällen, da sie doch aufgefunden wurde, spielte ein seliges Lächeln um ihren Mund. Dieses perfekte Verbrechen wird gemeinhin Spazierengehen genannt...

Fortsetzung in "Stückwerk, En vrac"

26. September 2011

Transit im Transistor



Ich lief einige Schritte einer Dame nach; nicht um sie einzuholen, sondern eigentlich nur, um ihre pelzberüschte Erscheinung abzulichten. Sie verschwand im Hauptbahnhof von Helsinki und schien mir dort schon entwischt, als ich sie plötzlich auf einer Wartebank in der Halle sitzen sah, kummervoll – oder nur nachdenklich? – vor sich hin blickend in dem monumentalen Bau von Eliel Saarinen, der von außen wie ein überdimensionierter Radioapparat aussieht.
Am folgenden Tag nahm ich eine jener Straßenbahnen, die scheinbar so verlässlich durch Helsinki rascheln – rascheln? mehr als rattern jedenfalls. Ich war ganz im Süden der Stadt, bei einem der Embleme des finnischen Jugendstils, der 1905 von Lars Sonck entworfenen Klinik Eiran Sairaala, in die Elektrische der Linie 3 eingestiegen, die zirkulär verläuft.



Etwa zehn Haltestellen weiter gab‘s Probleme. Der Tramführer stoppte mitten auf der Strecke, an einer Kreuzung, und kam ebenso hurtig wie gemütlich durch das Gefährt gerannt, löste am andern Ende die Bremse und ließ es einige Meter rückwärts rollen, um es dann rechtzeitig, eben als ein Aufschrei durch die Kabine zu gellen drohte, wieder zu stoppen. Oh! Abenteuerurlaub in der Straßenbahn! Dann stieg er aus und versuchte, die widerspenstige Weiche so zu stellen, dass er die vorgesehene Route einhalten konnte. Vergeblich – und also kommentierte er auf japanisch, vielmehr finnisch die missliche Lage (Finnisch klingt ein wenig wie Japanisch). Im Nu verließen die Fahrgäste das Tram und zerstreuten sich in alle Richtungen. Auch ich stieg schließlich aus, unschlüssig darüber, was zu tun sei.
Ging einige Minuten an der Kreuzung auf und ab, überquerte endlich die Fahrbahn, eben als sich die ins Stadtzentrum zurückführende Straßenbahn in Gegenrichtung in Bewegung gesetzt hatte. Warum und wohin hatte sich bloß die ganze Passagierschaft verzogen? Denn nun tauchte ja schon der nächste nordwärts strebende Konvoi der Linie 3 auf. Wahrscheinlich war der Kondukteur über Funk bzw. Nokia bereits über das Weichenproblem informiert worden, denn er hielt vor der Abzweigung und stieg, mit einer Eisenstange ausgerüstet, aus seiner Kabine. Aus der Ferne beobachtete ich, wie er da eine ganze Weile herumhebelte, ehe er wieder einstieg und ich im letzten Moment hinzueilte, um ihn zu fragen, ob er statt der Kurve nun die vorgesehene Gerade nehmen, und ob ich – obwohl es keine Haltestelle war – zusteigen könne. Selbstverständlich, mein Herr!
Das war der Moment, da mir von einem der vordersten Sitzplätze eine pelzberüschte Dame zuzwinkerte. Ich ließ mich, ohne sie weiter zu beachten, weiter hinten nieder. Das Tram folgte seinem Streckenplan, aber schon nach vier oder fünf Haltestellen, am nördlichen Wendepunkt der Route schätzungsweise, lief wieder etwas schief: kleine Ansprache des Tramführers, und die Reihen lichteten sich, jeder machte sich in wer weiß welche Richtung davon. Nur Madame und ich blieben sitzen. Bevor wir gleichfalls ausstiegen, sprach ich sie auf Englisch an, ob sie eventuell wisse, ob und wie es weitergehe. Da erst wurde ich gewahr: es war die Frau vom Hauptbahnhof. Und ihre Antwort war denkbar einfach: »Komm zu mir, für hundert Euro bin ich ganz die Deine!«
Ihr Kummer, die Trauer vom Vortag waren verflogen. Ich sagte dennoch nein; meine Frau warte nämlich am Hauptbahnhof auf mich, und in diesem Augenblick klingelte wie zum Beweis mein Handy, womit der Fall erledigt war. Sie kritzelte zwar noch ihre Telephonnummer auf einen Zettel, aber der Kondukteur – dem sie sich inzwischen gleichfalls anerboten hatte – kündigte schon an, in spätestens drei Minuten gehe die Fahrt weiter. Die Hure stieg an der nächsten Haltestelle aus, und zehn Minuten später schloss mich unter der Antenne – sprich dem Turm – des Bahnhofs von Saarinen dem Älteren lachend meine Liebste in die Arme.